Zum Thema
"Kopftuchverbot für Mitarbeiterinnen
in staatlichen Einrichtungen"

Zum Thema "Kopftuchverbot" in der Türkei (2005) siehe auch HIER
Die deutsche Rechtsprechung im Juni 2004 und Mai 2005
Was Kopftücher und Kirchenglocken gemeinsam haben

Forscher gegen Sonderverbote für muslimische Haarbedeckung
"Auch Kreuz kann als Unterdrückungssymbol verstanden werden"


VON URSULA RÜSSMANN

Im deutschen Kopftuchstreit wenden sich Religionswissenschaftler gegen ein einseitiges Verbot des muslimischen Kopftuchs für Lehrerinnen. Die Haarbedeckung sei nicht politischer als das christliche Kreuz, halten sie Politikern wie Wolfgang Thierse (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) entgegen.

Frankfurt am Main, 7. Januar 2004. Frankfurter Rundschau

Zuletzt hatte der Katholik und Bundestagspräsident Thierse gegen das Kopftuch argumentiert, es sei anders als das Kreuz auch ein politisches Symbol, nämlich der Unterdrückung von Frauen. Darin sieht der Potsdamer Religionsexperte Hans-Michael Haußig eine "Verwechslung politischer und religiöser Konnotationen": Thierse verkenne die gravierenden Unterschiede im Religionsverständnis. Denn im Islam und im Judentum finden sich viel mehr Alltagtvorschriften, beispielsweise Kleidungs- und Speiseregeln, als im Christentum. "Solange die Vorschriften niemand weh tun, sollte man sie dulden", meint Haußig im FR-Gespräch mit Blick auf die Religionsfreiheit.

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Dass das Kopftuchtragen nicht religiös begründbar sei, weil es im Koran gar nicht erwähnt wird, lässt der Religionwissenschaftler Christoph Bochinger nich gelten: "Von Kirchenglocken ist in der Bibel auch keine Rede", sagt er. Doch spricht der Koran vom "Bedecken der Scham", und auch in den Hadithen, den Überlieferungen Mohammeds, ist von der Bedeckung zu lesen. Die Stellen können als Aufforderung zum Kopftuchtragen ausgelegt werden" so auch Haußig.
"Unstrittig" ist für beide Forscher das religiöse Gewicht des Kopftuches im Islam.

Auch für viele Musliminnen in Deutschland spiele es eine "zentrale Rolle für ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Islam". Bochinger ist überzeugt, dass Lehrerinnen wie Fereshta Ludin, die den Streit vor das Verfassungsgericht getragen hatte, "nicht zu den unaufgeklärten Fundamentalistinnen gehören". Er sieht in der Haarbedeckung von Lehrerinnen vielmehr die Chance, "muslimischen Mädchen zu zeigen: Auch unter dem Kopftuch kann man klar denken".
Beide Experten schließen nicht aus, dass ein religiöses Symbol wie das Kopftuch politisch missbraucht werden kann. Pauschale Verbote würden da nicht helfen: "Auch ohne Kopftuch kann man Hardliner sein", sagt Haußig und rät zu Prüfungen im Einzelfall.
Problematisch finden die Wissenschaftler dagegen die Kruzifixe in bayerischen Klassenzimmern, denn sie verstießen gegen die Neutralitätspflicht des Staates. Hinzu kommt: Für Muslime war Jesus ein Prophet, und einen Propheten würde Gott nach ihrem Verständnis niemals opfern. "Für Muslime ist das Kreuz schon deshalb eine Provokation" erklärt der Bayreuther Bochinger. In Verbindung mit den Kreuzzügen werde es für sie außerdem zum politischen Unterdrückungssymbol.

30 Prozent der muslimischen Frauen in Deutschland tragen das Kopftuch

»[...] Das in der Öffentlichkeit besonders umstrittene Kopftuch tragen 70 Prozent der muslimischen Frauen nie. Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Generation ist hier gering, wobei ein Viertel der zuerst zugewanderten Musliminnen immer ein Kopftuch umbindet.[...]«
Zitat: islamische-zeitung.de, 23.06.2009 Berlin: Deutlich mehr Muslime in Deutschland

Paul Spiegel für Gleichbehandlung

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, hat den Kopftuchstreit als zu oberflächlich kritisiert. In der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung warnte er davor, zu schnell "massiv" in die verfassungsmäßigen Grundrechte einzugreifen. Ähnlich wie Bundespräsident Johannes Rau sprach sich Spiegel für die Gleichbehandlung der Religionen aus.

Die deutsche Rechtsprechung im Juni 2004
Das Bundesverwaltungsgericht hat am 24.06.2004 entschieden, dass das Gesetz des Landes Baden-Württemberg, das es Lehrerinnen untersagt, in der Schule ein Kopftuch zu tragen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die Klägerin Fereshta Ludin, die sich seit 1999 um ihre Einstellung in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg bemüht, war damit auch im zweiten Durchgang vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolglos. Das erste Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2002 hatte sie vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich angegriffen; das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, ein Verbot, im Unterricht ein "islamisches" Kopftuch zu tragen, bedürfe einer gesetzlichen Regelung, die alle Religionen strikt gleichbehandelt. Baden-Württemberg hatte daraufhin im April dieses Jahres ein solches Gesetz erlassen. Dieses Gesetz entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und bietet eine ausreichende Rechtsgrundlage, die Unterrichtserteilung mit Kopftuch zu untersagen. Da die Klägerin nicht bereit ist, diesem Verbot nachzukommen, fehlt ihr die für die Einstellung als Beamtin erforderliche Eignung.

Das baden-württembergische Gesetz enthält trotz der Erwähnung "christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte" keine Bevorzugung christlicher Religionen. Die allgemeine Regelung des Gesetzes, nach der es unzulässig ist, in der Schule durch Bekleidung politische, religiöse oder weltanschauliche Bekundungen abzugeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu stören oder zu gefährden, trifft alle Konfessionen und Weltanschauungen gleichermaßen.

Quelle: Pressemitteilung des BVerwG

Siehe auch: Deutschland: Kopftuchverbot bestätigt

Einen wahren Spagat zum Thema "Kopftuchverbot an Schulen" ist dem VG Bremen gelungen: Siehe Urteil des Bremer VG vom Mai 2005, wonach das Tragen eines Kopftuches an Schulen erlaubt ist.

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Straßburg - Türkei - November 2005

Zum Kopftuchstreit: Die heute 32-jährige Leyla Sahin wollte als Medizinstudentin in den Hörsälen der Istanbuler Universität 1998 nicht auf ihr Kopftuch verzichten und musste deshalb ihr Studium abbrechen. Sahin, die inzwischen in Wien lebt, kämpft von dort aus gegen das Kopftuchverbot in ihrer türkischen Heimat. Unterstützung findet sie im türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan und dessen islamisch geprägter Regierungspartei AKP. Doch mussten Sahin und Erdoğan im November 2005 eine schwere Niederlage einstecken: Das Europäische Menschenrechtsgericht in Straßburg bestätigte in einem höchstinstanzlichen Urteil das Kopftuchverbot in der Türkei. Als Begründung wird darauf verwiesen, dass das Kopftuch in der Türkei politische Bedeutung erlangt habe. Danach habe ein Staat das Recht, mit dem Kopftuchverbot den Säkularismus "als Garant demokratischer Werte" zu schützen. Schließlich gebe es in der Türkei radikalislamische Bewegungen, die aus dem Land einen Gottesstaat machen wollten...
Militär, Staatspräsident, große Teile der Bürokratie und die wichtigste Oppositionspartei im türkischen Parlament begrüßten dieses Urteil.

muz-online.de: Türkei - Landesinformation
Schwere Niederlage für Erdogan im Kopftuchstreit

Kopftuchverbot an Universitäten bestätigt
Im Januar 2008 erhält die AKP zu einigen Verfassungsänderungen Unterstützung von der rechtsnationalistischen Oppositionspartei MHP. Unter anderem soll das Kopftuchverbot zunächst an Universitäten aufgehoben werden.
Siehe auch: AKP, MHP agree on headscarf amendment

Anfang Juni 2008 bestätigte das türkische Verfassungsgericht das Kopftuchverbot an Universitäten. Die Richter begründeten diese Entscheidung vor allem damit, dass das von der Regierung im Februar verabschiedete Gesetz gegen die säkularen Prinzipien der Verfassung verstoße. Damit bleibt das Kopftuchverbot an Universitäten weiterhin bestehen.

Aufhebung des Kopftuchverbots

»[...] Im Oktober 2010 gab der Hochschulrat der Türkei bekannt, dass Studentinnen bei Verstößen gegen die Kleiderordnung nicht mehr von Vorlesungen ausgeschlossen werden.[...]«
Zitat: de.wikipedia.org, Kopftuchstreit

September/Oktober 2013: Ministerpräsident Erdoğan hat Ende September das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst aufgehoben. Am 31. Oktober trugen die vier Politikerinnen der Regierungspartei AKP erstmals im Parlament das Kopftuch.