Kampf der Kulturen oder
„nur“ verblendeter Fanatismus?

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Nach den Anschlägen auf New York und Washington werden vielerorts Stimmen laut, die die Ursachen solcher Terror-Anschläge in einer Neuordnung der Welt seit der Auflösung des eisernen Vorhangs vermuten. Diese Diskussion ist nicht neu. An die Stelle von Nationalstaaten treten demzufolge kulturelle und vor allem religiöse Gemeinsamkeiten, welche die Menschen verbinden und gegen andere abgrenzen. Aber findet tatsächlich ein „Kampf der Kulturen“ statt, wie ihn der Historiker Samuel P. Huntington (* 1927; † 2008) 1996 in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ beschrieben hat oder sind es nicht eher die Fundamentalisten, religiöse Fanatiker, die auf einem Irrweg des Glaubens alle nur erdenklichen Opfer für den Sieg des Gottesstaates auf sich nehmen und Menschleben opfern – das des vermeintlichen Feindes, aber auch das eigene?Huntingtons Thesen erscheinen auf dem ersten Blick schlüssig, doch sollten auch seine Kritiker und deren Argumente nicht vergessen werden. Samuel P. Huntington war Berater Präsident Clintons und unterstütze dessen massive Friedensbemühungen im Nahen Osten.

Die nachfolgenden Materialien geben Ihnen einen Einblick in die Diskussion und ermöglichen Ihnen eine differenziertere Sicht auf die Frage nach dem „Kampf der Kulturen“ und den möglichen Ursachen der erschreckenden Anschläge vom 11. September.

Professor Samuel Huntington über seine Angst vor einem Krieg der Kulturen und der Schwäche des Westens

(...) SPIEGEL: Wie definieren Sie Zivilisation?

Huntington: Als die größte kulturelle Einheit, mit der sich die Menschen identifizieren. Gemeinsame Sprache, Geschichte, Gebräuche gehören dazu. Der schnelle soziale Wandel und die weltweite wirtschaftliche Modernisierung lassen die Menschen nach neuen Gemeinsamkeiten suchen; das schwächt den Nationalstaat als Quelle der Identität. Oft tritt die Religion an seine Stelle: Eine Person kann zur Hälfte französisch, zur Hälfte arabisch sein - aber nicht halb katholisch, halb moslemisch. Religion schafft Zusammengehörigkeit, Abgrenzung gegenüber anderen. Deshalb gewinnen die Fundamentalisten des Islam, aber auch die Fundamentalisten des Christentums und des Hinduismus an Boden.

SPIEGEL: Wie viele Zivilisationen unterscheiden Sie?

Huntington: Die Welt wird künftig hauptsächlich durch die Wechselbeziehungen zwischen sieben oder acht großen Kulturen geprägt: die westliche, die islamische, die chinesische, die japanische, die hinduistische, die slawischorthodoxe, die lateinamerikanische und möglicherweise die afrikanische. Die Fronten zwischen diesen Kulturen ersetzen die ideologischen Grenzlinien des Kalten Krieges als Brennpunkte für Krisen und Blutvergießen.

SPIEGEL: Diese Aufteilung der Welt kommt uns sehr willkürlich vor. Warum zählen Sie beispielsweise Lateinamerika mit seiner spanisch geprägten Kultur nicht zum Westen?

Huntington: Interessant, dass Sie das sagen. Ich war mir bei Lateinamerika selbst nicht sicher; die Reaktion dort ist so, dass 50 Prozent wie Sie denken, 50 Prozent wie ich. Lateinamerikas Kultur ist offensichtlich mit der westlichen nahe verwandt. Aber ein Modell kann nicht perfekt sein, es liefert Anhaltspunkte, Leitlinien.

SPIEGEL: Wo hat sich Ihre Theorie vom "Kampf der Kulturen" als Erklärungsmuster denn bewährt?

Huntington: Bei so gut wie allen großen Krisen der Welt in den Jahren nach dem Kalten Krieg. Denken Sie an den Balkankonflikt, wo die orthodox-christlichen Serben auf die moslemischen Bosnier trafen; an den Krieg in Tschetschenien, wo Russen gegen fundamentalistische Mudschahidin kämpften; an die Versuche islamischer und konfuzianischer Staaten, Atomwaffen zu erwerben; an den kulturell geprägten Handelskonflikt zwischen den USA und Japan, wie er ja so zwischen den USA und Europa undenkbar wäre.

SPIEGEL: Wo liegen die großen Bruchlinien zwischen den Kulturen, an denen Ihrer Meinung nach die Kriegsgefahr am größten ist?

Huntington: Entlang der islamischen Welt, die blutige Grenzen hat. Im Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien, in Nahost, quer durch Nordafrika; aber auch in Südostasien existieren Kontroversen zwischen moslemischen Fanatikern und ihren Nachbarn - verstärkt durch den demographischen Druck: Islamische Gesellschaften haben extrem hohe Geburtenraten. (...)

SPIEGEL: Über die Jahrhunderte haben Differenzen zwischen Kulturen die längsten und blutigsten Konflikte hervorgerufen, schreiben Sie. Die schlimmsten Auseinandersetzungen der letzten 60 Jahre aber gab es doch innerhalb von Zivilisationen: Stalins Säuberungen, der Nazi-Holocaust, Pol Pots kambodschanischer Genozid - alles im wesentlichen Kriege gegen das eigene Volk oder die eigene Kultur.

Huntington: Das kann man so sehen. Diese waren jedoch Produkte von Ideologien, und wir bewegen uns von einem Zeitalter der Ideologien auf eine Ära zu, die durch Kulturen bestimmt wird ...(...)

SPIEGEL: Der Konfuzianer Lee Kuan Yew hat in Cambridge Rechtswissenschaften studiert, ein islamischer Hardliner wie der Sudanese Hassan el-Turabi war an der Sorbonne eingeschrieben. Die Kommunikation zwischen den Kulturen hat durch Massenkommunikationsmittel und durch Reisen dramatisch zugenommen. Trennt uns das gegenseitige Kennenlernen, oder verbindet es uns eher?

Huntington: Das kann in beide Richtungen gehen. Kultur ist relativ; Moral ist absolut.

SPIEGEL: Ist die Welt nicht viel zu komplex geworden für ein so vereinfachtes Modell, wie Sie es mit dem Kampf der Kulturen aufgestellt haben? Lauter Fragen ohne Antwort: Heizt nicht die ungleiche Verteilung von Reichtum auf der Welt die Konflikte mehr an, als es die Gedanken von Mohammed, Jesus oder Konfuzius vermögen? (...)

Huntington: Natürlich existieren wirtschaftliche Interessen, aber sie sind nicht von primärer Bedeutung. Die Menschen kämpfen und sterben für ihren Glauben und identifizieren sich mit ihrer Kultur - das hält sie zusammen, mehr denn je. Deshalb ist mein Gedankenmodell, das den Kalten Krieg ersetzt, der beste Kompass für die Zukunft.

SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Der Spiegel Nr. 48 vom 25.11.1996

Huntington übersah wesentliche Punkte: Erstens führen nicht Kulturen oder Religionen Kriege gegeneinander, sondern werden zur Rechtfertigung von Machtkämpfen und zur Massenmobilisierung missbraucht. Zweitens finden solche Kulturkonflikte längst innerhalb multikultureller und multiethnischer Gesellschaften statt. Nicht ein internationaler Kulturkampf , sondern interne Kulturkämpfe in heterogenen Gesellschaften bilden große Konfliktpotentiale. Drittens nährt sich der religiöse Fundamentalismus aus Entwicklungskrisen und sozialen Frustrationen, denen nicht mit Waffen, sondern nur mit Dialog und Hilfe begegnet werden kann. Je größer die sozialen Gegensätze sind, desto größer ist das Reservoir für den religiösen Fundamentalismus und politischen Radikalismus; je weniger das westliche Entwicklungsmodell seine sozialen Verheißungen erfüllen kann, desto größer werden die Widerstände gegen die westliche Welt.

F. Nuscheler: Das Nord-Süd-Problem. In: Grundwissen Politik.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Bonn, 1997, S. 482

Das Ockhamsche Rasiermesser wird geschwungen

Harald Müller

Der "Kampf der Kulturen" ist ein Kind der amerikanischen Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen. Viele US-Wissenschaftler folgen einem vermeintlich der Naturwissenschaft abgelauschten Ideal. Aus wenigen Grundannahmen soll ein Netzwerk theoretischer Sätze abgeleitet und an der Wirklichkeit getestet werden. Diese Tests sollen die Theorie dann vorläufig bestätigen oder widerlegen. So hat es der "kritische Rationalismus", die vor allem von Sir Karl R. Popper entwickelte Wissenschaftstheorie, aus den Erfahrungen der Naturwissenschaften herausdestilliert.

Ideal ist eine Theorie, die auf möglichst wenigen, einfachen Grundannahmen beruht und möglichst viel erklärt. Im Wettbewerb wird man demjenigen Gedankengebäude den Vorzug geben, das bei gleichem Erklärungsgehalt mit weniger Annahmen auskommt: die Theorie soll "sparsam" sein. Die Tugend der theoretischen Sparsamkeit, die alles Überflüssige wegschneidet, hat in der Wissenschaftsgeschichte den Namen "Ockhams Rasiermesser" bekommen, nach dem großen spätscholastischen Philosophen William von Ockham, der einer der Vordenker der modernen Wissenschaft war.

Viele Großtheoretiker in den USA, so auch Huntington, haben zwar mit großem Fleiß das Rasiermesser geschwungen, die hohen Ansprüche der kritischen Rationalisten an die empirische Überprüfung jedoch weit weniger ernst genommen. Anstelle des Bemühens um die Falsifikation der eigenen Hypothesen folgen sie weitgehend der bewährten Praxis von Rechtsanwälten: Sie sammeln die zugunsten des eigenen Klienten sprechenden Beweismaterialien und sehen über die unangenehme Gegen-Empirie großzügig hinweg.

Die Komplexität der Welt wird zudem soweit reduziert, daß wichtige Variablen und Faktoren, die das politische Weltgeschehen entscheidend mitbestimmen, aus dem Blickfeld geraten. Unterkomplexe Theorien folgen durchweg einem schlichten Schema, das als "politikwissenschaftlicher Manichäismus" bezeichnet werden kann. Die Manichäer, Anhänger einer altpersischen Religion, teilen die Welt in eine Zweiheit entgegengesetzter Pole. Der Kampf dieser beiden Pole, der Streit zwischen Licht und Finsternis, bestimmt das Weltgeschehen. In diesem Sinne knüpft Huntington an der "Theorie des Kalten Krieges" an, die mit der Aufteilung in die "Freie Welt" und die "Welt des Kommunismus" eine einfache klare Orientierung bot. Durch Parteinahme entsteht eine Theorie nach dem "Wir-Sie"-Schema - bei Huntington "The West and the Rest". An diesen Theorien hat die Welt ein großes Repertoire: Fundamentalismus, Sozialdarwinismus, Marxismus-Leninismus, Realismus usw. Sie alle pflegen ihre Tugend der Einfachheit auf Kosten der Wahrheit. Sie sind simpel und falsch. Ihre Anwendung beginnt bei scheinbar überzeugenden und für jeden einsichtigen Leitsätzen und endet in Rüstungswettlauf, Krieg und Massaker. Diese Art Theorien brauchen wir nicht.

Vorsicht ist angeraten im Umgang mit dieser "großen Theorie". Wer eine blau gefärbte Brille aufhat, kann nicht anders sehen als eine blaue Welt. Nicht anders geht es Huntington mit dem Kampf der Kulturen: die (theoretische) Brille verzerrt den Blick auf eine allzu widerständige Wirklichkeit. Huntington spricht z.B. von den "blutigen Grenzen des Islam". Er "beweist" diese These statistisch, indem er zeigt, daß von einunddreißig gewaltsamen Konflikten zwischen zwei und mehreren Parteien aus verschiedenen Kulturen einundzwanzig - also zwei Drittel - mit moslemischer Beteiligung stattfinden. Das sieht freilich danach aus, als sei der Islam eine besonders gewaltfreudige Kultur. Bei genauerer Überprüfung dieser Aussage fällt allerdings auf, daß die islamischen Kämpfer für einen "interkulturellen Konflikt" stets einen nichtislamischen Gegner brauchen. Mit dieser Überlegung kann man die Statistik in der folgenden Weise neu lesen: Von zweiundsechzig Parteien, die in gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen verwickelt sind, sind einundzwanzig - also etwa ein Drittel - Staaten oder Gruppierungen islamischer Herkunft. Das hört sich bereits anders an. Wirft man jetzt noch einen Blick auf den Atlas und sieht sich die Grenzen zwischen den Kulturen genauer an, so stellt man fest, daß der Islam weitaus mehr Außengrenzen zu Lande hat als jede andere Weltreligion. Huntingtons Statistik sagt uns nichts, was wir nicht längst gewußt hätten, daß Staaten, deren Territorien aneinandergrenzen, die größtmögliche Chance haben, in Händel miteinander zu geraten. Die überdurchschnittliche Kampfeslust des Islam entpuppt sich bei gründlicher Überlegung als durchschnittlicher statistischer Erwartungswert.

Der kulturelle Faktor     

Welche Rolle spielt der kulturelle Faktor in den Konflikten der Gegenwart? Sehen wir uns die Kriegs- und Konfliktstatistik des Jahres 1996 an. Das Heidelberger Institut für Konfliktforschung, das gewaltsame Konflikte regelmäßig beobachtet und statistisch erfaßt, hat für dieses Jahr 27 Kriege und gewaltsame Krisen gezählt, also solche Konflikte, in denen Menschen gewaltsam zu Tode gekommen sind. Es handelt sich dabei überwiegend um "innere Kriege", d.h. Gewalthandlungen innerhalb der Grenzen eines Staates. Seit dem zweiten Weltkrieg dominiert diese Kriegsform in der Welt, insbesondere "Regimekriege", bei denen es um das Ersetzen einer Regierungsform oder auch nur einer Herrschaftselite durch die andere geht, sind sehr häufig geworden.

Nur neun der 27 Gewaltkonflikte haben an den von Huntington gezogenen "zivilisatorischen Bruchlinien" stattgefunden. Bei der großen Mehrheit, nämlich siebzehn, handelt es sich um Konfliktparteien, die der gleichen Kultur angehört haben. Ganz anders sieht es aus, wenn man den ethnischen Faktor einbezieht. Angehörige unterschiedlicher Ethnien, d. h. Stämme, Völker, Rassen oder Nationen, waren an einundzwanzig gewaltsamen Konflikten beteiligt, nur in sechs spielte der ethnische Faktor keine Rolle. In anderen Worten: ethnische Konflikte dominieren das gewaltsame Konfliktgeschehen. Was noch bedeutsamer ist: in allen neun Fällen, in denen ein "kultureller Zusammenstoß" eine Rolle spielt, ist auch der ethnische Faktor beteiligt. Der "Kampf der Kulturen" hat nicht unabhängig davon gewirkt, daß sich die Konfliktparteien als unterschiedliche Ethnien verstehen, sondern nur im Zusammenwirken mit einem bestehenden, gravierenden ethnischen Konflikt.

Nun soll der "Kampf der Kulturen" ja vor allem künftige Konflikte prognostizieren. Auch hier ist die Heidelberger Statistik hilfreich. Sie erfaßt mit dem Begriff "latente Konflikte" 52 Konstellationen, in der zwei oder mehr Parteien einen Streit miteinander haben, der gewaltsam ausgetragen werden könnte, aber gegenwärtig noch nicht ausgebrochen ist. In dieser Kategorie, so können wir vermuten, finden wir Auseinandersetzungen, die in Zukunft die Vereinten Nationen und die Weltöffentlichkeit beschäftigen könnten.

Nur achtzehn dieser 52 Konflikte, also etwas mehr als ein Drittel, spielen sich an den "zivilisatorischen Bruchlinien" ab. Vierunddreißig haben nichts damit zu tun. Andererseits haben wieder sechsunddreißig Konflikte, also mehr als zwei Drittel, verschiedene ethnische Gruppen als Akteure. Auch hier ist also der ethnische Faktor ganz eindeutig beherrschend. Überdies fällt auf, daß bei den latenten Konflikten die Mehrzahl, nämlich dreißig, klassische Territorialkonflikte, also internationaler Natur, sind. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil von den achtundzwanzig gewaltsamen Auseinandersetzungen des Jahres 1996 lediglich sechs sich um traditionelle Territorialfragen drehten. Die große Mehrheit hingegen stellte "interne" Konflikte um die Macht im Staate oder um Sezession dar. Die meisten latenten Territorialkonflikte finden jedoch zwischen Angehörigen gleicher Ethnien (z.B. China/Taiwan, Südamerika, Arabische Halbinsel) statt; somit ist der Anteil des ethnischen Faktors bei den latenten Konflikten etwas niedriger. Wir müssen also erwarten, daß auch in Zukunft die kulturelle Verursachung von gewaltsamen Konflikten hinter ethnischen Ursachen zurückbleiben und auch im Vergleich zu klassischen zwischenstaatlichen Territorialkonflikten innerhalb der unruhigeren Weltregionen keineswegs eine dominierende Rolle spielen wird.

Der kulturelle Faktor ist nur einer von vielen; die Ursachen von Konflikten sind viel komplexer. Unter den gefährlichsten Konflikten und blutigsten Kriegen der Gegenwart spielen sich der zentralafrikanische, der afghanische, der kurdische, der algerische, der koreanische innerhalb der gleichen Kultur ab; davon haben die ersten drei eine klare ethnische Komponente; der afghanische, der algerische, der zentralafrikanische und der koreanische Disput sind überdies Regimekriege, wobei in den Fällen Korea und Afrika die Dynamik eines zwischenstaatlichen Sicherheitsdilemmas hinzukommt.

Die Konflikte zwischen Indien und Pakistan, in Sri Lanka, Bosnien und im Mittleren Osten liegen auf der zwischenkulturellen Bruchlinie. Sie haben allerdings allesamt eine ganz starken ethnischen Hintergrund, der in Sri Lanka, Bosnien und im Mittleren Osten durch politische und wirtschaftliche Diskriminierung eskaliert ist. In all diesen Konflikten geht es um das klassische Objekt kollektiver Auseinandersetzungen: um die Kontrolle über ein Territorium, das die jeweiligen Streitparteien für sich beanspruchen. In Südasien und im Mittleren Osten werden die Konflikte überdies durch ein Sicherheitsdilemma, durch die Präsenz von Massenvernichtungswaffen, hochgradig verschärft.

Die islamische Gefahr

Den Ländern des Islam hat die Neuzeit eine schwere Geschichte beschert. Als Opfer eines besonders hartnäckigen und ausbeuterischen Kolonialismus ist ihnen bis heute der Modernisierungserfolg versagt geblieben. Die wirtschaftliche Entwicklung aller Länder weist Brüche auf, auch die ölproduzierenden Staaten haben von ihren Erdölvorkommen nur geringfügig ökonomisch profitieren können. Archaische Herrschaftsformen und besonders abstoßende Tyranneien haben die Ausbildung einer selbstbewußten Bürgerklasse verhindert. Die Kolonialmächte haben frühe Ansätze zur selbständigen Nationalstaatsentwicklung im Keim erstickt.

Dennoch ist es grundfalsch, von der islamischen Staatenwelt oder der islamischen Gesellschaft als einem bedrohlich überkochenden Einheitsbrei zu sprechen. Die islamische Staatenwelt ist differenziert, gespalten und von politischem Wettbewerb zwischen den führenden Staaten geprägt. Kein plausibles Szenario kann entworfen werden, das eine Vereinheitlichung dieses Mosaiks in Aussicht stellt. Auch die vorhandenen internationalen Organisationen - Arabische Liga, Islamische Konferenz - sind schwach ausgeprägt, andere Organisationen dienen lediglich den Interessen des jeweiligen Führungsstaates.

Zentralstaaten sind die Kristallisationspunkte, die Hauptakteure in Huntingtons "Kulturkrieg". Im Islam wird es keinen solchen Kernstaat geben, und zwar weder in einer weitgehend säkularisierten noch in einer stärker fundamentalisierten islamischen Staatenwelt. Die Geschichte zeigt, daß sich diese riesige, ethnisch, geographisch, wirtschaftlich und sozial heterogene Region keiner einheitlichen Herrschaft untergeordnet. Wo es zu einer solchen Herrschaft kam - im Jahrhundert nach dem Wirken des Propheten, unter der Abassidendynastie und während des Osmanenreiches - war die Einheit entweder rein nominell, oder bestimmte Regionen waren bereits faktisch oder auch rechtlich selbständig. In allen Fällen wurde die Einheit nicht durch kulturellen Gleichklang, sondern durch militärische Eroberung hergestellt. Auch in unserer Zeit könnte nur Gewalt die Vielfalt der islamischen Welt mit ihren gegenseitigen Feindschaften, ethnischen Sonderungen, konfessionellen und sektiererischen Gegensätzen unter eine Herrschaft zwingen. Die zwischenstaatlichen Konflikte und die Rivalitäten um die Führungsstellung - in Nordafrika, im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel, am Persischen Golf, in Zentralasien, in der arabischen und in der gesamten islamischen Welt - sind Legion. Externe Mächte springen ein, um ein gestörtes Gleichgewicht in den Regionen wiederherzustellen, moderne Militärtechnik macht zudem Eroberungskriege unvergleichlich kostspielig und verlustreich. Militärisch läßt sich die politische Einheit des Islam jedoch nicht mehr erzwingen.

Auch der Fundamentalismus kann das nicht schaffen. Der Grund liegt darin, daß es laut Koran nur eine einzige sakral legitimierte Herrschaft geben kann. Der Fundamentalismus ist deshalb eine politische Mission zur Herstellung dieser Herrschaft. In den internen Hierarchien zweier Staaten wird es aber dieselbe Auffassung von dieser Herrschaft nur dann geben, wenn ein Verhältnis totaler Abhängigkeit besteht, wie es zwischen dem (extrem schwachen) Sudan und dem (relativ starken) Iran besteht. In allen anderen Fällen führt die gleiche Legitimitätsgrundlage - wegen ihres Absolutheitsanspruchs - bei geringstmöglichen Abweichungen zur erbitterten Feindschaft: denn dann stellt die Existenz eines islamischen Staates, der auf einer abweichenden Interpretation gegründet ist, diejenige aller anderen islamistischen Staaten in Frage, die anderen Auslegungen gelten als Ketzerei und müssen bekämpft werden. Die wechselseitigen Feindschaften der fundamentalistischen Staaten Afghanistan, Iran und Saudi-Arabien sprechen hier Bände. Der politische Fundamentalismus führt durch seine Verbreitung zum Schisma, zur Religionsspaltung.

Die islamische Gesellschaft besteht keineswegs nur aus Fundamentalisten, noch wird sie von ihnen dominiert. Neben den Fundamentalisten unterschiedlicher Couleur findet man dort die modernistischen Anpasser, die gemäßigten Modernisten, die opportunistischen Traditionalisten und die islamischen Traditionalisten. Ein durchgehender Trend des Fundamentalismus ist nicht auszumachen, im Gegenteil, die Ernüchterung, die durch die Mißerfolge der iranischen Revolution eingetreten ist, und die starke Ablehnung der Aktionen der Fundamentalisten durch die islamische Bevölkerung in Ägypten oder Algerien bremst eher die Ausbreitung solcher Bewegungen.

E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit
(Nr. 10, Oktober 1998, S. 262-264)

Sie missbrauchen den Islam

Orientalist Gernot Rotter über moslemische Selbstmordattentäter.
Interview: Holger Dohmen

ABENDBLATT: Die Bereitschaft der Angreifer auf das World Trade Center, sich selber zu opfern, spricht dafür, dass es sich bei den Attentätern um Moslems handelt. Wer sind die Drahtzieher?

Gernot Rotter: Es scheint so zu sein, dass Osama bin Laden der führende Kopf ist. Dabei muss er selber nicht einmal den Befehl gegeben haben. Die Entscheidung kann auch in einer Untergruppe gefallen sein.

ABENDBLATT:Was bringt Menschen dazu, sich zu opfern und dies mit der Religion zu begründen?

Rotter: Es gibt diese Möglichkeit in allen drei monotheistischen Religionen, also bei Juden, Christen und Moslems. Wir haben es bei den Schriften dieser Religionen mit so genannten normativen Texten zu tun. Und aus solchen Gesetzestexten kann sich jeder wie aus einem Steinbruch die richtigen Steinchen herausbrechen, um sich dann das Mosaik seines Hassbildes zusammenzusetzen. Das hatten wir im Christentum, das gibt es heute noch bei jüdischen Gruppen in Israel. In bestimmten historischen Situationen bietet es sich für Rattenfänger an, bestimmte Mosaike völlig aus dem Zusammenhang zu reißen und für ihre Hasspredigten zu benutzen. Führt dieser Hass zum Tod, wird dieser versüßt mit dem sofortigen Eintritt ins Paradies. Der Märtyrer wird so zum Ideal.

ABENDBLATT: Genau das Heilsversprechen für eine entwurzelte Jugend, wie sie in den Palästinensergebieten heranwächst.

Rotter: Ja. Diese jungen Menschen haben keine Zukunftsaussichten. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist das Heldentum im Märtyrertum.

ABENDBLATT: Aber die Mörder von New York und Washington verschwinden jetzt in der Anonymität. Wer weiß schon, wer die so genannten Helden sind?

Rotter: Das gehört zur Taktik von Osama bin Laden. Er leugnet immer und veröffentlicht keine Bekennerschreiben. Theologisch ist der Selbstmord im Islam nicht zu belegen. Darum geht es bin Laden auch nicht. Er hat in Afghanistan Terroristenschulen gegründet, die Kandidaten aus verschiedensten Ländern aufgenommen haben. Diese Menschen sind willige Werkzeuge bin Ladens und seiner Kommandanten.

ABENDBLATT: Missbraucht bin Laden also den Koran?

Rotter: Ganz sicher. Aber das ist leider immer mit Religion geschehen. Auch im Christentum.

ABENDBLATT: Kann man dann überhaupt von einem Religionskrieg sprechen?

Rotter: Davor würde ich warnen. Wir haben auch in Deutschland einige Millionen Muslime. Wenn wir das, was jetzt geschehen ist, auf die Religion reduzieren, führt das zu neuem Hass. Wir müssen uns davor hüten, alle Muslime in einen Topf zu werfen.

ABENDBLATT: Sind westliche Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Islam gerechtfertigt?

Rotter: Für die Demokratie gilt das sicherlich. Im historischen Bewusstsein des arabischen Moslem ist aber sehr stark verankert, dass der Islam über 700 Jahre zivilisatorisch und kulturell absolut überlegen war. Es gibt also bei vielen Moslems heute einen Kulturschock. Sie fragen, warum sind wir da unten, wo wir doch Jahrhunderte ganz oben waren? Und in diese Situation stoßen die Islamisten. Sie werfen ihren Glaubensbrüdern, die keinen brutalen Fundamentalismus predigen, Verrat am Islam vor.

ABENDBLATT: Das Unterlegenheitsgefühl wird also von Menschen wie Osama bin Laden instrumentalisiert mit dem Versprechen, den Islam wieder zu neuer Größe zu führen.

Rotter: Absolut. Bin Laden fühlt sich als großer Reformator und nachprophetischer Heiliger.

Hamburger Abendblatt, 13.09.2001