Huntington: Interessant, dass Sie das sagen. Ich war mir bei
Lateinamerika selbst nicht sicher; die Reaktion dort ist so, dass 50 Prozent
wie Sie denken, 50 Prozent wie ich. Lateinamerikas Kultur ist offensichtlich
mit der westlichen nahe verwandt. Aber ein Modell kann nicht perfekt sein, es
liefert Anhaltspunkte, Leitlinien.
SPIEGEL: Wo hat sich Ihre Theorie vom "Kampf der
Kulturen" als Erklärungsmuster denn bewährt?
Huntington: Bei so gut wie allen großen Krisen der Welt in den Jahren
nach dem Kalten Krieg. Denken Sie an den Balkankonflikt, wo die orthodox-christlichen
Serben auf die moslemischen Bosnier trafen; an den Krieg in Tschetschenien, wo
Russen gegen fundamentalistische Mudschahidin kämpften; an die Versuche
islamischer und konfuzianischer Staaten, Atomwaffen zu erwerben; an den
kulturell geprägten Handelskonflikt zwischen den USA und Japan, wie er ja so
zwischen den USA und Europa undenkbar wäre.
SPIEGEL: Wo liegen die großen Bruchlinien zwischen den Kulturen,
an denen Ihrer Meinung nach die Kriegsgefahr am größten ist?
Huntington: Entlang der islamischen Welt, die blutige Grenzen hat. Im
Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien, in Nahost, quer durch Nordafrika; aber
auch in Südostasien existieren Kontroversen zwischen moslemischen Fanatikern
und ihren Nachbarn - verstärkt durch den demographischen Druck: Islamische
Gesellschaften haben extrem hohe Geburtenraten. (...)
SPIEGEL: Über die Jahrhunderte haben Differenzen zwischen Kulturen
die längsten und blutigsten Konflikte hervorgerufen, schreiben Sie. Die
schlimmsten Auseinandersetzungen der letzten 60 Jahre aber gab es doch
innerhalb von Zivilisationen: Stalins Säuberungen, der Nazi-Holocaust, Pol Pots
kambodschanischer Genozid - alles im wesentlichen Kriege gegen das eigene Volk
oder die eigene Kultur.
Huntington: Das kann man so sehen. Diese waren jedoch Produkte von
Ideologien, und wir bewegen uns von einem Zeitalter der Ideologien auf eine Ära
zu, die durch Kulturen bestimmt wird ...(...)
SPIEGEL: Der Konfuzianer Lee Kuan Yew hat in Cambridge
Rechtswissenschaften studiert, ein islamischer Hardliner wie der Sudanese Hassan
el-Turabi war an der Sorbonne eingeschrieben. Die Kommunikation zwischen den
Kulturen hat durch Massenkommunikationsmittel und durch Reisen dramatisch
zugenommen. Trennt uns das gegenseitige Kennenlernen, oder verbindet es uns
eher?
Huntington: Das kann in beide Richtungen gehen. Kultur ist relativ;
Moral ist absolut.
SPIEGEL: Ist die Welt nicht viel zu komplex geworden für ein so
vereinfachtes Modell, wie Sie es mit dem Kampf der Kulturen aufgestellt haben?
Lauter Fragen ohne Antwort: Heizt nicht die ungleiche Verteilung von Reichtum
auf der Welt die Konflikte mehr an, als es die Gedanken von Mohammed, Jesus
oder Konfuzius vermögen? (...)
Huntington: Natürlich existieren wirtschaftliche Interessen, aber sie
sind nicht von primärer Bedeutung. Die Menschen kämpfen und sterben für ihren
Glauben und identifizieren sich mit ihrer Kultur - das hält sie zusammen, mehr
denn je. Deshalb ist mein Gedankenmodell, das den Kalten Krieg ersetzt, der
beste Kompass für die Zukunft.
SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Der Spiegel Nr. 48 vom 25.11.1996
Huntington
übersah wesentliche Punkte: Erstens führen nicht Kulturen oder Religionen
Kriege gegeneinander, sondern werden zur Rechtfertigung von Machtkämpfen und
zur Massenmobilisierung missbraucht. Zweitens finden solche Kulturkonflikte
längst innerhalb multikultureller und multiethnischer Gesellschaften statt. Nicht
ein internationaler Kulturkampf , sondern interne Kulturkämpfe in heterogenen
Gesellschaften bilden große Konfliktpotentiale. Drittens nährt sich der
religiöse Fundamentalismus aus Entwicklungskrisen und sozialen Frustrationen,
denen nicht mit Waffen, sondern nur mit Dialog und Hilfe begegnet werden kann.
Je größer die sozialen Gegensätze sind, desto größer ist das Reservoir für den
religiösen Fundamentalismus und politischen Radikalismus; je weniger das
westliche Entwicklungsmodell seine sozialen Verheißungen erfüllen kann, desto
größer werden die Widerstände gegen die westliche Welt.
F. Nuscheler: Das Nord-Süd-Problem. In: Grundwissen Politik.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Bonn, 1997, S. 482
Das Ockhamsche Rasiermesser
wird geschwungen
Harald Müller
Der
"Kampf der Kulturen" ist ein Kind der amerikanischen Wissenschaft von
den Internationalen Beziehungen. Viele US-Wissenschaftler folgen einem
vermeintlich der Naturwissenschaft abgelauschten Ideal. Aus wenigen
Grundannahmen soll ein Netzwerk theoretischer Sätze abgeleitet und an der
Wirklichkeit getestet werden. Diese Tests sollen die Theorie dann vorläufig
bestätigen oder widerlegen. So hat es der "kritische Rationalismus",
die vor allem von Sir Karl R. Popper entwickelte Wissenschaftstheorie, aus den
Erfahrungen der Naturwissenschaften herausdestilliert.
Ideal ist
eine Theorie, die auf möglichst wenigen, einfachen Grundannahmen beruht und
möglichst viel erklärt. Im Wettbewerb wird man demjenigen Gedankengebäude den
Vorzug geben, das bei gleichem Erklärungsgehalt mit weniger Annahmen auskommt:
die Theorie soll "sparsam" sein. Die Tugend der theoretischen
Sparsamkeit, die alles Überflüssige wegschneidet, hat in der Wissenschaftsgeschichte
den Namen "Ockhams Rasiermesser" bekommen, nach dem großen spätscholastischen
Philosophen William von Ockham, der einer der Vordenker der modernen
Wissenschaft war.
Viele
Großtheoretiker in den USA, so auch Huntington, haben zwar mit großem Fleiß das
Rasiermesser geschwungen, die hohen Ansprüche der kritischen Rationalisten an
die empirische Überprüfung jedoch weit weniger ernst genommen. Anstelle des
Bemühens um die Falsifikation der eigenen Hypothesen folgen sie weitgehend der
bewährten Praxis von Rechtsanwälten: Sie sammeln die zugunsten des eigenen Klienten
sprechenden Beweismaterialien und sehen über die unangenehme Gegen-Empirie
großzügig hinweg.
Die
Komplexität der Welt wird zudem soweit reduziert, daß wichtige Variablen und
Faktoren, die das politische Weltgeschehen entscheidend mitbestimmen, aus dem
Blickfeld geraten. Unterkomplexe Theorien folgen durchweg einem schlichten Schema,
das als "politikwissenschaftlicher Manichäismus" bezeichnet werden
kann. Die Manichäer, Anhänger einer altpersischen Religion, teilen die Welt in
eine Zweiheit entgegengesetzter Pole. Der Kampf dieser beiden Pole, der Streit
zwischen Licht und Finsternis, bestimmt das Weltgeschehen. In diesem Sinne
knüpft Huntington an der "Theorie des Kalten Krieges" an, die mit der
Aufteilung in die "Freie Welt" und die "Welt des Kommunismus"
eine einfache klare Orientierung bot. Durch Parteinahme entsteht eine Theorie
nach dem "Wir-Sie"-Schema - bei Huntington "The West and the
Rest". An diesen Theorien hat die Welt ein großes Repertoire:
Fundamentalismus, Sozialdarwinismus, Marxismus-Leninismus, Realismus usw. Sie
alle pflegen ihre Tugend der Einfachheit auf Kosten der Wahrheit. Sie sind
simpel und falsch. Ihre Anwendung beginnt bei scheinbar überzeugenden und für
jeden einsichtigen Leitsätzen und endet in Rüstungswettlauf, Krieg und Massaker.
Diese Art Theorien brauchen wir nicht.
Vorsicht ist
angeraten im Umgang mit dieser "großen Theorie". Wer eine blau
gefärbte Brille aufhat, kann nicht anders sehen als eine blaue Welt. Nicht
anders geht es Huntington mit dem Kampf der Kulturen: die (theoretische) Brille
verzerrt den Blick auf eine allzu widerständige Wirklichkeit. Huntington
spricht z.B. von den "blutigen Grenzen des Islam". Er
"beweist" diese These statistisch, indem er zeigt, daß von
einunddreißig gewaltsamen Konflikten zwischen zwei und mehreren Parteien aus
verschiedenen Kulturen einundzwanzig - also zwei Drittel - mit moslemischer
Beteiligung stattfinden. Das sieht freilich danach aus, als sei der Islam eine
besonders gewaltfreudige Kultur. Bei genauerer Überprüfung dieser Aussage fällt
allerdings auf, daß die islamischen Kämpfer für einen "interkulturellen
Konflikt" stets einen nichtislamischen Gegner brauchen. Mit dieser
Überlegung kann man die Statistik in der folgenden Weise neu lesen: Von
zweiundsechzig Parteien, die in gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den
Kulturen verwickelt sind, sind einundzwanzig - also etwa ein Drittel - Staaten
oder Gruppierungen islamischer Herkunft. Das hört sich bereits anders an. Wirft
man jetzt noch einen Blick auf den Atlas und sieht sich die Grenzen zwischen
den Kulturen genauer an, so stellt man fest, daß der Islam weitaus mehr
Außengrenzen zu Lande hat als jede andere Weltreligion. Huntingtons Statistik
sagt uns nichts, was wir nicht längst gewußt hätten, daß Staaten, deren
Territorien aneinandergrenzen, die größtmögliche Chance haben, in Händel
miteinander zu geraten. Die überdurchschnittliche Kampfeslust des Islam
entpuppt sich bei gründlicher Überlegung als durchschnittlicher statistischer
Erwartungswert.
Der kulturelle Faktor
Welche Rolle spielt der kulturelle Faktor in den Konflikten der Gegenwart?
Sehen wir uns die Kriegs- und Konfliktstatistik des Jahres 1996 an. Das
Heidelberger Institut für Konfliktforschung, das gewaltsame Konflikte
regelmäßig beobachtet und statistisch erfaßt, hat für dieses Jahr 27 Kriege und
gewaltsame Krisen gezählt, also solche Konflikte, in denen Menschen gewaltsam
zu Tode gekommen sind. Es handelt sich dabei überwiegend um "innere
Kriege", d.h. Gewalthandlungen innerhalb der Grenzen eines Staates. Seit dem
zweiten Weltkrieg dominiert diese Kriegsform in der Welt, insbesondere
"Regimekriege", bei denen es um das Ersetzen einer Regierungsform
oder auch nur einer Herrschaftselite durch die andere geht, sind sehr häufig
geworden.
Nur neun der
27 Gewaltkonflikte haben an den von Huntington gezogenen
"zivilisatorischen Bruchlinien" stattgefunden. Bei der großen
Mehrheit, nämlich siebzehn, handelt es sich um Konfliktparteien, die der
gleichen Kultur angehört haben. Ganz anders sieht es aus, wenn man den ethnischen
Faktor einbezieht. Angehörige unterschiedlicher Ethnien, d. h. Stämme, Völker,
Rassen oder Nationen, waren an einundzwanzig gewaltsamen Konflikten beteiligt,
nur in sechs spielte der ethnische Faktor keine Rolle. In anderen Worten:
ethnische Konflikte dominieren das gewaltsame Konfliktgeschehen. Was noch
bedeutsamer ist: in allen neun Fällen, in denen ein "kultureller
Zusammenstoß" eine Rolle spielt, ist auch der ethnische Faktor beteiligt.
Der "Kampf der Kulturen" hat nicht unabhängig davon gewirkt, daß sich
die Konfliktparteien als unterschiedliche Ethnien verstehen, sondern nur im Zusammenwirken
mit einem bestehenden, gravierenden ethnischen Konflikt.
Nun soll der
"Kampf der Kulturen" ja vor allem künftige Konflikte prognostizieren.
Auch hier ist die Heidelberger Statistik hilfreich. Sie erfaßt mit dem Begriff
"latente Konflikte" 52 Konstellationen, in der zwei oder mehr
Parteien einen Streit miteinander haben, der gewaltsam ausgetragen werden
könnte, aber gegenwärtig noch nicht ausgebrochen ist. In dieser Kategorie, so
können wir vermuten, finden wir Auseinandersetzungen, die in Zukunft die
Vereinten Nationen und die Weltöffentlichkeit beschäftigen könnten.
Nur achtzehn
dieser 52 Konflikte, also etwas mehr als ein Drittel, spielen sich an den
"zivilisatorischen Bruchlinien" ab. Vierunddreißig haben nichts damit
zu tun. Andererseits haben wieder sechsunddreißig Konflikte, also mehr als zwei
Drittel, verschiedene ethnische Gruppen als Akteure. Auch hier ist also der
ethnische Faktor ganz eindeutig beherrschend. Überdies fällt auf, daß bei den
latenten Konflikten die Mehrzahl, nämlich dreißig, klassische Territorialkonflikte,
also internationaler Natur, sind. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil von den
achtundzwanzig gewaltsamen Auseinandersetzungen des Jahres 1996 lediglich sechs
sich um traditionelle Territorialfragen drehten. Die große Mehrheit hingegen
stellte "interne" Konflikte um die Macht im Staate oder um Sezession
dar. Die meisten latenten Territorialkonflikte finden jedoch zwischen Angehörigen
gleicher Ethnien (z.B. China/Taiwan, Südamerika, Arabische Halbinsel) statt;
somit ist der Anteil des ethnischen Faktors bei den latenten Konflikten etwas
niedriger. Wir müssen also erwarten, daß auch in Zukunft die kulturelle
Verursachung von gewaltsamen Konflikten hinter ethnischen Ursachen
zurückbleiben und auch im Vergleich zu klassischen zwischenstaatlichen
Territorialkonflikten innerhalb der unruhigeren Weltregionen keineswegs eine
dominierende Rolle spielen wird.
Der
kulturelle Faktor ist nur einer von vielen; die Ursachen von Konflikten sind
viel komplexer. Unter den gefährlichsten Konflikten und blutigsten Kriegen der
Gegenwart spielen sich der zentralafrikanische, der afghanische, der kurdische,
der algerische, der koreanische innerhalb der gleichen Kultur ab; davon haben
die ersten drei eine klare ethnische Komponente; der afghanische, der algerische,
der zentralafrikanische und der koreanische Disput sind überdies Regimekriege,
wobei in den Fällen Korea und Afrika die Dynamik eines zwischenstaatlichen
Sicherheitsdilemmas hinzukommt.
Die Konflikte
zwischen Indien und Pakistan, in Sri Lanka, Bosnien und im Mittleren Osten
liegen auf der zwischenkulturellen Bruchlinie. Sie haben allerdings allesamt
eine ganz starken ethnischen Hintergrund, der in Sri Lanka, Bosnien und im
Mittleren Osten durch politische und wirtschaftliche Diskriminierung eskaliert
ist. In all diesen Konflikten geht es um das klassische Objekt kollektiver Auseinandersetzungen:
um die Kontrolle über ein Territorium, das die jeweiligen Streitparteien für
sich beanspruchen. In Südasien und im Mittleren Osten werden die Konflikte
überdies durch ein Sicherheitsdilemma, durch die Präsenz von Massenvernichtungswaffen,
hochgradig verschärft.
Die islamische Gefahr
Den Ländern
des Islam hat die Neuzeit eine schwere Geschichte beschert. Als Opfer eines
besonders hartnäckigen und ausbeuterischen Kolonialismus ist ihnen bis heute
der Modernisierungserfolg versagt geblieben. Die wirtschaftliche Entwicklung
aller Länder weist Brüche auf, auch die ölproduzierenden Staaten haben von
ihren Erdölvorkommen nur geringfügig ökonomisch profitieren können. Archaische
Herrschaftsformen und besonders abstoßende Tyranneien haben die Ausbildung
einer selbstbewußten Bürgerklasse verhindert. Die Kolonialmächte haben frühe
Ansätze zur selbständigen Nationalstaatsentwicklung im Keim erstickt.
Dennoch ist
es grundfalsch, von der islamischen Staatenwelt oder der islamischen
Gesellschaft als einem bedrohlich überkochenden Einheitsbrei zu sprechen. Die
islamische Staatenwelt ist differenziert, gespalten und von politischem
Wettbewerb zwischen den führenden Staaten geprägt. Kein plausibles Szenario
kann entworfen werden, das eine Vereinheitlichung dieses Mosaiks in Aussicht
stellt. Auch die vorhandenen internationalen Organisationen - Arabische Liga,
Islamische Konferenz - sind schwach ausgeprägt, andere Organisationen dienen
lediglich den Interessen des jeweiligen Führungsstaates.
Zentralstaaten
sind die Kristallisationspunkte, die Hauptakteure in Huntingtons
"Kulturkrieg". Im Islam wird es keinen solchen Kernstaat geben, und
zwar weder in einer weitgehend säkularisierten noch in einer stärker
fundamentalisierten islamischen Staatenwelt. Die Geschichte zeigt, daß sich
diese riesige, ethnisch, geographisch, wirtschaftlich und sozial heterogene
Region keiner einheitlichen Herrschaft untergeordnet. Wo es zu einer solchen
Herrschaft kam - im Jahrhundert nach dem Wirken des Propheten, unter der
Abassidendynastie und während des Osmanenreiches - war die Einheit entweder
rein nominell, oder bestimmte Regionen waren bereits faktisch oder auch
rechtlich selbständig. In allen Fällen wurde die Einheit nicht durch
kulturellen Gleichklang, sondern durch militärische Eroberung hergestellt. Auch
in unserer Zeit könnte nur Gewalt die Vielfalt der islamischen Welt mit ihren
gegenseitigen Feindschaften, ethnischen Sonderungen, konfessionellen und
sektiererischen Gegensätzen unter eine Herrschaft zwingen. Die zwischenstaatlichen
Konflikte und die Rivalitäten um die Führungsstellung - in Nordafrika, im Nahen
Osten, auf der arabischen Halbinsel, am Persischen Golf, in Zentralasien, in
der arabischen und in der gesamten islamischen Welt - sind Legion. Externe
Mächte springen ein, um ein gestörtes Gleichgewicht in den Regionen
wiederherzustellen, moderne Militärtechnik macht zudem Eroberungskriege
unvergleichlich kostspielig und verlustreich. Militärisch läßt sich die
politische Einheit des Islam jedoch nicht mehr erzwingen.
Auch der
Fundamentalismus kann das nicht schaffen. Der Grund liegt darin, daß es laut
Koran nur eine einzige sakral legitimierte Herrschaft geben kann. Der
Fundamentalismus ist deshalb eine politische Mission zur Herstellung dieser
Herrschaft. In den internen Hierarchien zweier Staaten wird es aber dieselbe
Auffassung von dieser Herrschaft nur dann geben, wenn ein Verhältnis totaler
Abhängigkeit besteht, wie es zwischen dem (extrem schwachen) Sudan und dem
(relativ starken) Iran besteht. In allen anderen Fällen führt die gleiche
Legitimitätsgrundlage - wegen ihres Absolutheitsanspruchs - bei
geringstmöglichen Abweichungen zur erbitterten Feindschaft: denn dann stellt
die Existenz eines islamischen Staates, der auf einer abweichenden
Interpretation gegründet ist, diejenige aller anderen islamistischen Staaten in
Frage, die anderen Auslegungen gelten als Ketzerei und müssen bekämpft werden.
Die wechselseitigen Feindschaften der fundamentalistischen Staaten Afghanistan,
Iran und Saudi-Arabien sprechen hier Bände. Der politische Fundamentalismus
führt durch seine Verbreitung zum Schisma, zur Religionsspaltung.
Die islamische Gesellschaft besteht keineswegs nur aus
Fundamentalisten, noch wird sie von ihnen dominiert. Neben den Fundamentalisten
unterschiedlicher Couleur findet man dort die modernistischen Anpasser, die
gemäßigten Modernisten, die opportunistischen Traditionalisten und die islamischen
Traditionalisten. Ein durchgehender Trend des Fundamentalismus ist nicht
auszumachen, im Gegenteil, die Ernüchterung, die durch die Mißerfolge der
iranischen Revolution eingetreten ist, und die starke Ablehnung der Aktionen
der Fundamentalisten durch die islamische Bevölkerung in Ägypten oder Algerien
bremst eher die Ausbreitung solcher Bewegungen.
E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit
(Nr. 10, Oktober 1998, S. 262-264)
Sie missbrauchen den Islam
Orientalist
Gernot Rotter über moslemische Selbstmordattentäter.
Interview:
Holger Dohmen
ABENDBLATT: Die Bereitschaft der
Angreifer auf das World Trade Center, sich selber zu opfern, spricht dafür,
dass es sich bei den Attentätern um Moslems handelt. Wer sind die Drahtzieher?
Gernot Rotter: Es scheint so zu sein,
dass Osama bin Laden der führende Kopf ist. Dabei muss er selber nicht einmal
den Befehl gegeben haben. Die Entscheidung kann auch in einer Untergruppe gefallen
sein.
ABENDBLATT:Was bringt Menschen dazu,
sich zu opfern und dies mit der Religion zu begründen?
Rotter: Es gibt diese Möglichkeit in
allen drei monotheistischen Religionen, also bei Juden, Christen und Moslems.
Wir haben es bei den Schriften dieser Religionen mit so genannten normativen
Texten zu tun. Und aus solchen Gesetzestexten kann sich jeder wie aus einem
Steinbruch die richtigen Steinchen herausbrechen, um sich dann das Mosaik
seines Hassbildes zusammenzusetzen. Das hatten wir im Christentum, das gibt es
heute noch bei jüdischen Gruppen in Israel. In bestimmten historischen
Situationen bietet es sich für Rattenfänger an, bestimmte Mosaike völlig aus
dem Zusammenhang zu reißen und für ihre Hasspredigten zu benutzen. Führt dieser
Hass zum Tod, wird dieser versüßt mit dem sofortigen Eintritt ins Paradies. Der
Märtyrer wird so zum Ideal.
ABENDBLATT: Genau das Heilsversprechen
für eine entwurzelte Jugend, wie sie in den Palästinensergebieten heranwächst.
Rotter: Ja. Diese jungen Menschen haben
keine Zukunftsaussichten. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist das Heldentum im
Märtyrertum.
ABENDBLATT: Aber die Mörder von New
York und Washington verschwinden jetzt in der Anonymität. Wer weiß schon, wer
die so genannten Helden sind?
Rotter: Das gehört zur Taktik von Osama
bin Laden. Er leugnet immer und veröffentlicht keine Bekennerschreiben.
Theologisch ist der Selbstmord im Islam nicht zu belegen. Darum geht es bin Laden
auch nicht. Er hat in Afghanistan Terroristenschulen gegründet, die Kandidaten
aus verschiedensten Ländern aufgenommen haben. Diese Menschen sind willige
Werkzeuge bin Ladens und seiner Kommandanten.
ABENDBLATT: Missbraucht bin Laden also
den Koran?
Rotter: Ganz sicher. Aber das ist
leider immer mit Religion geschehen. Auch im Christentum.
ABENDBLATT: Kann man dann überhaupt von
einem Religionskrieg sprechen?
Rotter: Davor würde ich warnen. Wir
haben auch in Deutschland einige Millionen Muslime. Wenn wir das, was jetzt
geschehen ist, auf die Religion reduzieren, führt das zu neuem Hass. Wir müssen
uns davor hüten, alle Muslime in einen Topf zu werfen.
ABENDBLATT: Sind westliche
Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Islam gerechtfertigt?
Rotter: Für die Demokratie gilt das
sicherlich. Im historischen Bewusstsein des arabischen Moslem ist aber sehr
stark verankert, dass der Islam über 700 Jahre zivilisatorisch und kulturell
absolut überlegen war. Es gibt also bei vielen Moslems heute einen
Kulturschock. Sie fragen, warum sind wir da unten, wo wir doch Jahrhunderte
ganz oben waren? Und in diese Situation stoßen die Islamisten. Sie werfen ihren
Glaubensbrüdern, die keinen brutalen Fundamentalismus predigen, Verrat am Islam
vor.
ABENDBLATT: Das Unterlegenheitsgefühl
wird also von Menschen wie Osama bin Laden instrumentalisiert mit dem
Versprechen, den Islam wieder zu neuer Größe zu führen.
Rotter: Absolut. Bin Laden fühlt sich
als großer Reformator und nachprophetischer Heiliger.
Hamburger Abendblatt,
13.09.2001
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